Freitag, 8. September 2017

Die Ermordung des letzten russischen Zaren

Am Nachmittag habe ich weiter bei Radsinski über das Schicksal der Zarenfamilie gelesen. Dabei wird ziemlich ausführlich die Geschichte des bolschewistischen Kommissars und Terroristen Wassili Jakowlews und seines Vorgesetzten Jakow Swerdlow erzählt, die die Überführung der Familie vom sibirischen Tobolsk nach Jekaterinburg im Ural organisierten und dabei sämtliche Tricks anwendeten, die bei Terroristen üblich sind. Die Strategie hatte Lenin in einem Brief an seine Kampftruppen bereits am 3. Oktober 1905 verkündet[1]:
„Gründet sofort Kampftruppen, überall und allerorts, sowohl bei den Studenten als auch besonders bei den Arbeitern… Sie sollen sich unverzüglich selber bewaffnen, so gut jeder kann, mit Revolvern, Messern, petroleumgetränkten Lappen, um Feuer anzulegen usw. … Die Abteilungen sollen jetzt gleich, unverzüglich ihre militärische Ausbildung mit praktischen Kampfhandlungen beginnen. Die einen werden einen Spitzel töten oder ein Polizeirevier in die Luft sprengen, andere werden eine Bank überfallen, um Geldmittel für den Aufstand zu konfiszieren … Jede Abteilung soll selbständig lernen, sei es durch Verprügelung von Polizisten.“ (S 280)
Solche revolutionären Phrasen wirkten noch bei meinen kommunistischen Kommilitonen nach, die während meines Studiums in den 70er Jahren immer noch von der Weltrevolution träumten[2]. Die RAF (Rote-Armee-Fraktion), die ziemlich genau vor 40 Jahren in Köln den Arbeitgeberpräsidenten Hans-Martin Schleyer entführte und dabei drei Stuttgarter Polizisten tötete, haben Lenins Direktive knapp 75 Jahre später noch einmal „umgesetzt“.
Swerdlow und Jakowlew waren, wie alle bolschewistischen Führer, atheistische Juden. Sie spielten in aller Regel ein doppeltes Spiel. So konstatiert Radsinski auf Seite  279 im Kapitel „Die geheime Mission“:
„Die nach Tobolsk entsandte ‚militärische Verstärkung‘ hatte tatsächlich die geheime Mission, den Zaren und seine Familie nach Moskau zu überführen. Aber der gewiefte Swerdlow[3] erklärte nicht, dass die „Ergänzung“ Jekaterinburg nun das gesetzliche Recht gab, die Zarenfamilie für sich zu fordern. Das doppelte Spiel Swerdlovs hatte begonnen. Dieses Spiel würde alle künftigen Historiker verwirren. Mit der Leitung war Wassili Jakowlew betraut.“

Jetzt habe ich beinahe das ganze Buch von Radsinski gelesen. Die grausamen Berichte von der Erschießung der Zarenfamilie und ihrer Nächsten, insgesamt elf Personen, sind wahrlich kaum auszuhalten. Dokumente über diese Morde wurden erst kurz vor Zusammenbruch der Sowjetherrschaft bekannt. Radsinki war der erste Historiker, der sie in Archiven auffand und begann, sie – zunächst 1989 in einer russischen Zeitschrift, dann in seinem 1992 erschienenen Buch – zu veröffentlichen.

Der Mörder des Zaren, Jakov Jurowski, der im Buch auch als „Der schwarze Mann“ bezeichnet wird, hat einen Bericht von der Hinrichtung verfasst. Radsinski versucht, seinen Hass zu verstehen:
„Wenn man später das Unmenschliche, das im Souterrain des Ipatjew-Hauses geschah, zu erklären versuchte, bezeichneten die einen Jurowski und seine Genossen als Mörder und Sadisten. Die anderen sahen in der Erschießung der Zarenfamilie die blutige Rache der Juden am rechtgläubigen Zaren (…). Damit ließ sich das Geschehen leichter erklären. Rache für die bestialischen Pogrome, für die tägliche Erniedrigung!
Wäre es so gewesen, dann wäre darin, so schrecklich es klingen mag, doch etwas gewesen, was der menschliche Verstand zu erfassen vermag. Aber es war alles anders.
In seinem letzten Brief aus dem Kremlkrankenhaus schrieb der todkranke Jurowski: ‚Unsere Familie litt weniger unter dem ständigen Hunger als unter dem religiösen Fanatismus des Vaters. An Feiertagen wie an Werktagen mussten wir Kinder beten, und es ist nicht verwunderlich, dass mein erster aktiver Protest gegen die religiösen, nationalistischen Traditionen gerichtet war. Ich hasste Gott und die Gebete, wie ich die Armut und meine Herren hasste.‘
Ja, er hasste die Religion seiner Väter und ihren Gott.
Jurowski und Golostschokin hatten ihr Judentum schon in der Jugend verworfen. Sie dienten einem ganz anderen Volk. Dieses Volk lebte ebenfalls auf der ganzen Welt. Es war das weltweite Proletariat. Das war das Volk Jurowskis, Nikulins, Golostschokins, Beloborodows und des Letten Bersin.
Und die Partei, der sie angehörten, versprach, auf der ganzen Erde die Herrschaft dieses Volkes zu befestigen. Dann musste das lang ersehnte Glück der Menschheit anbrechen.
Aber dazu musste ein grausamer Kampf geführt werden. ‚Hebamme der Geschichte‘, nannten sie Blut und Gewalt.
Die Revolutionäre des 19. Jahrhunderts, Netschajew und Tkatschew, hatten überlegt: wie viele Menschen der alten Gesellschaft müssen wir vernichten, um eine glückliche Zukunft zu errichten? Sie waren zu dem Schluss gekommen: Wir müssen darüber nachdenken, wie viele wir ‚übriglassen‘. Es ging um die ‚Methode der Aussonderung der kommunistischen Menschheit aus dem Material der kapitalistischen Epoche‘ (Bucharin).
Sie machten sich an die Arbeit – sie sonderten aus dem menschlichen Material aus.
Trotzki: ‚Man muss für immer Schluss machen mit dem Popen- und Quäkergeschwätz über den heiligen Wert des menschlichen Lebens.‘ Und sie machten damit Schluss. Unbeugsamer Klassenhass beherrschte ihre Seelen. (…) 
Sie verwirklichten die große Mission, die ihnen ihr Lehrer Marx im Namen der Zukunft hinterlassen hatte: die Agonie der überlebten Klassen zu beschleunigen.“ (Edward Radsinski, Nikolaus II, 1992, S 331f)




[1] Später hat er diese Strategie zwar offiziell zurückgenommen, aber, so Radsinski, „Doch wie immer in der Geschichte der Bolschewiken stand hinter dem Offensichtlichen das Geheime. (…) Nachdem sie den Terrorismus aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung verboten hatten, unterstützten sie ihn heimlich.“ (S 280)
[2] Selbst jetzt im Bundestagswahlkampf tritt eine kommunistische Partei, die MLPD, an. Von ihren Plakaten schauen Marx und Lenin immer noch als die längst entthronten Götter herab. Ich kann es nicht fassen, dass es immer noch Leute gibt, die vom Kommunismus träumen.
[3] Kommissar der Bolschewisten im Ural-Gebiet

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