Freitag, 25. August 2017

Aus meinem Reisetagebuch

Sosnovy Bor, der 23. August 2017 (Mittwoch, 8.48/9.48 Uhr)
Unsere Zeit in Russland geht langsam zu Ende. Am Samstag wollen wir wieder aufbrechen. (...)
Heute Nacht habe ich ausführlich von Vladimir Putin geträumt. Er saß nur wenige Meter von mir entfernt in einem Saal des Nobel-Hotels „Rosa Luxemburg“ (ich habe keine Ahnung, ob es das gibt) und trauerte über den Tod von Boris Jelzin. Er schrieb in kyrillischer Schrift eine Art Widmung auf ein weißes Blatt Papier, gab noch eine Art Edelstein dazu und schlug alles dann in eine aktuelle Tageszeitung ein, die er Jelzin in den Sarg legen wollte, so als müsse er einen „Grundstein“ legen.
Gestern waren wir in Petershof.
Wir haben uns zuerst die Parkanlage erwandert (450 Rubel pro Person) und anschließend noch eine (russischsprachige) Führung durch den Hauptpalast mitgemacht (700 Rubel – d.h. 10.-Euro pro Person). Die zentrale Kaskade nördlich des Palasts mit der berühmten zentralen Figur des Samson und all den anderen Statuen mythologischer Figuren aus Gold wurde belagert von Scharen (oft chinesischer) Touristen, die sie als Kulisse für „Selfies“ missbrauchten. Überhaupt bin ich wieder einmal „schockiert“, wie viel fotografiert wird. Es ist eine wahre Inflation von Bildern, die hier entsteht und in alle Welt hinausgetragen wird.


Wie wohltuend sind dagegen die Gemälde im Palast, die in kunstvoller, meist wochenlanger Arbeit entstanden sind, darunter auch eines von Olga von Württemberg. Olga Nikolajewna Romanov (1822 – 1892), die Tochter von Zar Nikolaus I., wurde 1864 als Gattin von König Karl I. von Württemberg Königin und hat unter anderen sozialen Einrichtungen das bis heute bestehende Olga-Hospital gegründet. Das wunderschöne Gemälde dieser russischen Großfürstin in einem Saal des Petershofer Palastes war das einzige, was ich von der in aller Eile vorgetragenen Führung mitbekam. Außerdem beeindruckte mich auch das Arbeitszimmer Peters des Großen, das ganz aus Eichenholz geschnitzt ist.
Es stimmt tatsächlich, dass die Deutschen diese Palast- und Gartenanlage barbarisch zerstört haben. Darauf weisen zumindest überall großformatige historische Fotografien hin. Ich schäme mich für diese Taten meiner Vorväter und sage laut zu Lena und Olga, dass es eine Schande ist.
Der Park nördlich des Palasts ist streng symmetrisch gegliedert und beruht ähnlich wie die Stadt Sankt Petersburg auf drei zentralen Strahlen, die von der Zarenkrone auf dem Türmchen des zentralen Palastbaus ausgehen und über drei Fontänen der zentralen Kaskade in Richtung Ostseeufer verlaufen. Die westliche Seiten-Achse  „streift“ dabei eine achteckige Brunnen-Schale, in deren Mitte eine Eva-Statue steht, von deren Füßen 16 Fontänen ein wunderbares Wasserballet vollführen. Das gleiche spiegelt sich bei der östlichen Seiten-Achse in einer Adams-Statue mit Fontäne.



So steht das Ur-Menschenpaar als Mann und Frau Pate für die beiden Fächerstrahlen, die sich im Verlaufe des Parks nach Westen und Osten noch weiter verzweigen. Der mittlere Strahl, der vom alttestamentarischen Samson ausgeht, wie Herkules eine Symbolfigur für Peters Kraft, führt nördlich genau auf den Finnischen Meerbusen zu, südlich über das zentrale Palastzimmer in die Gartenanlage mit dem Neptun-Brunnen und der Herkulesstatue. Samson versinnbildlicht Peters Sieg über die Schweden am 27. Juni 1707. Herkules ist ein Symbol für Peters Landmacht, Neptun für seine Seemacht.
Sosnovy Bor, der 24. August 2017 (Donnerstag, 10.27/11.27 Uhr)
Eben saß ich neben Lenas Mutter im Wohnzimmer.
Im Fernsehen kam eine Sendung, die sie sich ansah. Als ich mich nach dem Frühstück, das wir heute ziemlich spät zu uns nahmen, neben sie setzte, erkannte ich im Fernsehen eine Abbildung des griechischen Philosophen Aristoteles. Sofort war mein Interesse geweckt und ich versuchte, zu verstehen, um was es ging. Als ich dann plötzlich Erich von Däniken auf dem Bildschirm sah, der in deutscher Sprache – und in russischer Übersetzung – von den Astronauten-Göttern erzählte, die in prähistorischer Zeit angeblich von einem Raumschiff aus die Erde beobachtet und dann einen Roboter auf die Erde geschickt hätten, der Rohstoffe wie Gold einsammeln sollte, dann wusste ich, woher „der Wind weht“. Von Lena hatte ich schon früher erfahren, dass viele Russen an UFOs glauben. Schließlich sah ich in dem Fernsehkanal mit dem Signet einer seitenverkehrten „4“ einen Atompilz. Es wurde suggeriert, dass es in prähistorischer Zeit zu solch einer Katastrophe gekommen sei, was man nur mit der Zündung einer Atombombe erklären könne. Dazu wurden Verse aus einem alten Epos eingeblendet.
Ich vermute sehr, dass es Verse aus der „Bhagavad Gita“ waren, aus der auch der berühmte Satz „heller als tausend Sonnen“ stammt.[1] Mit diesen Worten beschrieb der Kernphysiker Robert Oppenheimer, der den Atomblitz am 16. Juli 1945[2]  im Corpus-Christi- Gebirge bei Los Alamos im Staate Neu-Mexiko beobachtete, den Eindruck: er war der wissenschaftliche Leiter des „größten und teuersten Experiments der Menschheitsgeschichte“ (Spiegel vom 23.08.2013), ein sehr gebildeter Mann. Er soll im Angesicht des durchdringenden Lichtes, das von der Zündung ausging, die Verse aus der Bhagavad Gita rezitiert haben.[3]
Heute regnet es wieder in Strömen. Wir bleiben zu Hause. 
Gestern haben wir mit Olga Zarskoje Selo („Zarendorf“) in der Stadt Puschkin im Süden von Sankt Petersburg besucht.
Der Palast, der auf ein erstes Steinhaus von Katharina I., der ersten Frau Peters des Großen, zurückgeht, wurde von ihrer gemeinsamen Tochter, der Zarin Elisabeth I., unter ihrem Lieblingsarchitekten Bartolomeo Rastrelli ab 1725 zu einer großzügigen Anlage ausgebaut, die wir heute noch bewundern können. Überall sehen wir die Initiale „E“ in Kartuschen an der Fassade oder an den Wänden der Innenräume. Die Süd-Ostfassade des „Katharinenpalastes“, durch die wir mit etwa vierhundert anderen wartenden Besuchern eintreten, ist dreigeschossig und mehr als 300 Meter lang. Sie endet im Nordosten mit der Palastkirche, die uns durch ihre fünf goldenen Kuppeln schon bei der Anfahrt auf die Stadt Puschkin aufgefallen waren. „Kolossalsäulen, Pilaster, Atlanten und Fensterverzierungen beleben die Prachtfassade eines der schönsten Barockpaläste Europas“ (Nelles-Reiseführer, S 234).


Besonders die Atlanten interessieren mich beim Warten in der Schlange und ich informiere mich mit Hilfe von Olgas Handy[4] über die Sage von Atlas, die mir nicht mehr ganz gegenwärtig war. So erfahre ich, dass Atlas, einer der Titanen, die sich unter Chronos gegen die Olympier um den Göttervater Zeus erhoben, der König von Atlantis war. Zur Strafe wegen des Aufstandes verbannte Zeus Atlas nicht in den Tartaros, sondern legte ihm das Himmelsgewölbe (Uranos) am äußersten Rand der Welt auf die Schulter, um zu verhindern, dass es sich wieder mit der Erde (Gaia) vereine. Atlas hatte viele Kinder, unter anderen die Plejaden und die Hesperiden. Als Herkules seine elfte Aufgabe bekam, traf er auch am Ende der Welt auf Atlas. Er überzeugte diesen, ihm die goldenen Äpfel seiner Töchter zu holen und erklärte sich bereit, das Himmelsgewölbe so lange an seiner statt zu halten. Darauf ging Atlas ein. Durch eine List gelang es Herkules aber, Atlas die beschwerliche Last wieder zu übergeben und kehrte mit den goldenen Äpfeln zu König Eurystheus zurück.
Mit Scharen von Besuchern wurden wir durch die Zimmer des Palastes „geschoben“ und lauschten den Worten unserer Führerin, die uns über den kleinen elektronischen Lautsprecher im Ohr erreichten. Da sie auf Russisch waren, verstand ich nur vereinzelte Bruchstücke. Das war der Fall, als der Name „Württemberg“ fiel. Beim Nachforschen heute Morgen erfuhr ich, dass die Tochter des Bruders von Carl Eugen, Sophie Dorothe Auguste Luise, Prinzessin von Württemberg, im Jahre 1776 von Katharina, der Großen mit ihrem Sohn Paul verheiratet wurde, der später als Paul I. den Zarenthron bestieg. Sie hieß dann Maria Fjodorowna. Mit ihrem später ermordetem Mann, dem gedemütigten Sohn Katharinas, hatte sie zehn Kinder, darunter die beiden späteren Zaren Alexander I. und Nikolaus I. Auch diese württembergische Prinzessin auf dem Zarenthron setzte sich in Sankt Petersburg in der Nachfolge der Heiligen Elisabeth von Thüringen sehr für wohltätige Einrichtungen ein und galt als eher sparsam.
Was Maria Fedorownas Politik betrifft, so folgte sie offenbar dem konservativen Kurs ihres Mannes Paul I., der die liberalen Ideen der französischen Revolution strikt ablehnte. Andererseits wurde ihr Bruder Friedrich I. von Napoleons Gnaden der erste König von Württemberg. Marias Sohn Zar Alexander I. war der gefeierte „Sieger“ über Napoleon, der im Jahr 1812 vergeblich versuchte, Moskau einzunehmen und dadurch auch das Zarenreich zu unterwerfen, wie er es zuvor bereits mit Preußen getan hatte.
Europäische Geschichte wird plötzlich ganz lebendig für mich.
Interessant war für mich auch die klassizistische „Cameron-Galerie“, die von dem schottischen Architekten Charles Cameron in den Jahren 1780 – 1789 in der Form eines griechischen Tempels für Katharina II. errichtet worden war. Hier wollte sich die Zarin mit ihren Gästen über Geschichte und Philosophie unterhalten. Unter den mehr als zweihundert Jahre alten Bronze-Büsten im Umgang zwischen dem vollkommen transparenten Tempel-Raum und den Kolonaden mit 44 weißen Säulen, die den umlaufenden Fries und das Dach mit jonischen Kapitellen stützen, entdecke ich Sokrates, Plato und Alexander den Großen. Aristoteles war mit Sicherheit auch darunter, aber ich entdeckte ihn nicht beim eiligen Durchschreiten. Meine Frauen waren plötzlich einmal wieder vorausgeeilt und verschwunden.
Das Bernsteinzimmer, um das so viel Aufhebens gemacht wird, enttäuschte mich im Grunde. Ich bin kein Liebhaber von teurem Luxus und Prunk und interessiere mich eher für die Arbeit der geschickten Handwerker und Künstler, die diesen Raum schufen. In dem ursprünglich von Andreas Schlüter  für den ersten Preußenkönig, Friedrich Wilhelm I., entworfenen Zimmer, der es in seinem Schloss in Königsberg einbauen ließ und später Zar Peter I. für seinen Winterpalast schenkte[5], sind auch vier Mosaikdarstellungen zu sehen, die die fünf Sinne zeigen: der „Tast- und Geruchssinn“ an der Südwand, der „Hörsinn“ an der Ostwand, der „Sehsinn“ an der Nordwand und der „Geschmackssinn“ ebenfalls an der Ostwand. Nur an der Fensterseite, der Westwand, sind keine Mosaiken.
In dem Lyzeum in der Nachbarschaft der Auferstehungs-Kirche war der Dichter Alexander Puschkin von 1811 bis 1817 Schüler. Nach ihm nannten die Kommunisten zum 100. Todestag des Dichters 1918 die Stadt Zarskoje Selno Puschkin. Lena hat im Bücher-Shop des Palastes einen Band mit Puschkins Märchen in deutscher Sprache gefunden, den ich gekauft habe.
19.15/20.15 Uhr:
Heute haben wir nichts unternommen.
Am Nachmittag ist der Doktor gekommen, um Lenas Mutter zu untersuchen. Ich unterhielt mich mit dem gebildeten Mann und versuchte, ihm zu erklären, was Anthroposophie ist. Als ich ihm den Namen Helena Petrowna Blavatski nannte, konnte er sich zumindest einen anfänglichen Reim machen.
Er seinerseits erzählte mir von einem preußischen Oberst, der sich zur Zeit Hitlers mit den Don Kosaken verbündete und mit ihnen gegen die „Roten“ kämpfte. Er nannte den Namen „Oberst von Parvitz“, aber ich konnte im Internet nichts über ihn finden.
Ich las heute Abend den sechsten Vortrag aus Rudolf Steiners Helsingfors-Zyklus vom 2. Juni 1913. Darin wird auch die Stelle aus dem elften Gesang zitiert, an die der des Sanskrit mächtige Julius Robert Oppenheimer bei der Zündung von „Gadget“, der ersten der unter dem Namen „Trinity“ entwickelten drei Atombomben, dachte:
„Ich bin die Urzeit, die alle Welt vernichtet.“
Rudolf Steiner schildert die Lichtgestalt Krishnas als den Bringer des menschlichen Selbstbewusstseins und der menschlichen Freiheit. Diesen Krishna kann und muss jede einzelne Menschenseele in sich erleben im Laufe der Weltenevolution. Würde er aber nur Krishna erleben, dann würde sich die Menschheit immer mehr „individualisieren“; ich würde sogar das Wort „atomisieren“ dafür benützen, denn so weit sind wir heute schon. Dadurch würde die Evolution in einer Sackgasse enden. Deswegen musste aus dem Kosmos heraus ein anderer Impuls kommen, der nun nicht auf die einzelne menschliche Seele im Sinne des Selbstbewusstseins wirkte, sondern in der Menschenseele das Menschheitliche wieder zum Bewusstsein brächte. Das ist der Christus-Impuls.
Mit Wilfried Michalski hatte ich heute einen kleinen Austausch über das Thema. Er hatte heute eine Erinnerung an einen Spiegel-Artikel vom 23. August 2013[6] auf seiner Seite gepostet, die sich mit dem Manhattan-Projekt beschäftigte, und dazu an eigene Gedanken erinnert, die er damals in seinem Weblog „Denkgarten“ veröffentlicht hatte[7]. Er erzählt dort, wie er am 6. August vor ungefähr 30 Jahren einmal durch ein Kalenderblatt von zwei Ereignissen dieses Tages erfuhr. Es war der Tag der Verklärung Christi und der Tag des Abwurfes der zweiten Atombombe (Little Boy) auf die japanische  Stadt Hiroshima. Seitdem lässt ihn dieser Gegensatz zwischen der Atomkraft und dem Christuslicht nicht mehr los.
Sosnovy Bor, der 25. August 2017 (Freitag, 7.15/8.15 Uhr, Saint Louis)
Heute Morgen scheint wieder die Sonne in Sosnovy Bor.
Gestern las ich auch noch den siebten Vortrag aus dem Helsingfor-Zyklus. Da ging es um die „schöpferischen Kräfte“, die Nachts am Menschen arbeiten und zu denen der Hellseher Zugang hat, sie allerdings auch nicht im unmittelbaren Wirken beobachten kann, sondern sich die entsprechenden Erkenntnisse erst im Nachhinein bewusst machen kann. Rudolf Steiner betont in diesem Zyklus mindestens zweimal, dass die Tatsache der „zwei Jesusknaben“ von ihm nur auf diesem Wege gefunden werden konnte. Diese schöpferischen Kräfte hängen aufs engste mit der Schwester- oder Bruderseele der Menschheit zusammen, die sich seit der alten Lemuris nur einmal auf Erden verkörpert hat, nämlich um die Zeitenwende in dem Lukasknaben. Diese Schwesterseele der Menschheit nahm Arjuna in Krishna wahr.
In der zu Ende gehenden Woche haben wir die Schöpferkräfte dreimal in drei verschiedenen Varianten erleben dürfen: in den Parkanlagen aus dem 18. Jahrhundert rund um Sankt Petersburg. All diese griechischen Götter und Göttinnen, die Nymphen, Nereiden, Atlanten und Jahreszeitenwesen, die die von Menschenhand gestalteten Gärten und Parks beleben, sind Manifestationen dieser schöpferischen Kräfte, wenn auch zum Teil in Symbolform – Herkules steht für Peters Landmacht, Naptun für Peters Seemacht, Samson für Peters Sieg über die Schweden – zum Teil als allegorische Gestalten. Immer wieder taucht auch das Geschwisterpaar Apollo und Artemis/Diana auf. Auch der Götterbote Hermes ist oft an wichtigen Stellen zu finden.
Der Höhepunkt der russischen Park- und Gartenkunst ist wohl die Zeit Katharinas der Großen.[8] Sie regierte von 1762 bis zu ihrem Tod 1796 als Zarin in Russland. Das war ungefähr zur gleichen Zeit, als in Preußen Friedrich der Große (regiert von 1740 – 1786), und im Habsburgerreich Österreich-Ungarn Maria Theresia (regiert von 1740 – 1780) herrschten. Nur Katharina II. war Zeitgenossin der Französischen Revolution, die das französische Königshaus der Valois stürzte.
Katharina der Großen verdankt das Land die meisten Palastausbauten in der Form, wie wir sie heute sehen. Katharina hatte ihren Gatten, Zar Peter III. in Peterhof abgesetzt. In Oranienbaum musste der Zar seine Abdankungsurkunde unterschreiben und am selben Tag wurde Katharina in der Kasaner Kathedrale in Sankt Petersburg durch den Metropoliten zur Alleinherrscherin Russlands erklärt.[9] Alle drei Stätten haben wir auf unserer Reise besucht.
Katharinas Regierungszeit fällt zusammen mit der Goethezeit. 1762 war Goethe 13 Jahre alt. Von 1759 bis 1761 war während des Siebenjährigen Krieges im Haus der Familie Goethe in Frankfurt der französische General und Stadtkommandant Thoranc einquartiert. Er hatte seine Schauspieltruppe dabei. Goethe hörte viel Französisch und begann seinen ersten, nicht erhaltenen Roman, in dem er viele europäische Sprachen mischte.[10]
Die eigentliche Goethezeit begann 1775 mit der Ankunft Goethes in Weimar und endete 1805 mit Schillers Tod. In dieser Zeit, die man auch die „Weimarer Klassik“ nennt, entstanden die Hauptwerke der deutschsprachigen Literatur. Ihr voraus ging die klassische Zeit der Französischen Kultur im Zeitalter Ludwigs XIV. mit dem Dichterdreigestirn Corneille, Racine und Moliere.
Während die französische Klassik bald im Formalismus erstarrte, bleib die Weimarer Klassik bis heute lebendig.
Ich denke, dass diese wiederum die russische Literatur prägte.
So bewegte sich die Quelle der „schöpferischen Kräfte“ von England (Shakespeare) über Frankreich (Racine, Corneille, Moliere) und Deutschland (Lessing, Goethe und Schiller) nach Russland (Alexander Puschkin), also von Westen nach Osten. Puschkin (1799 – 1837), der etwa 1812 nach dem Sieg Zar Alexanders I. über Napoleon, als er noch auf dem Elite-Gymnasium von Zarskoje Selo war, mit 13 Jahren zu schreiben begann[11], gilt heute als russischer Nationaldichter, denn er schrieb nicht mehr in französischer, sondern in russischer Sprache. Puschkin war auch der erste russische Dichter, von dem ich ein Buch erhielt. Es sind die Erzählungen, die unter dem Titel „Der Postmeister“ veröffentlicht wurden. Heiderose S., meine Klassenkameradin auf dem Gymnasium, die heute in Amerika verheiratet ist, hat es mir vor ungefähr 50 Jahren geschenkt.
Am Mittwoch haben wir, bevor wir nach Zarskoje Selo fuhren, Lenas Vater Fjodor bei der Arbeit besucht. Er arbeitet in der Großgärtnerei „Rosia“ am Rande von Sasnovy Bor und ist dort als Elektroingenieur zuständig für die Stromversorgung. Es ist ein Riesenbetrieb, der den ganzen „Oblast Leningrad“ mit über sechs Millionen Menschen mit Salat und Gemüse versorgt. Die Gärtnerei arbeitet nach der modernsten Anbaumethode, die aus Holland stammt. Die in individuellen Töpfen gezogenen Tomaten-, Auberginen- und Paprikapflanzen werden mit der computergesteuerten Tröpfchen-Methode, in der sich auch die Nährlösung befindet, bewässert.
Es ist schon merkwürdig zu erleben, wie am gleichen Ort sowohl der Strom für die weite Umgebung aus der lebensfeindlichen Atomkraft gewonnen, als auch Lebensmittel für die Menschen der Umgebung auf dem moorig-sauern Boden erzeugt werden, der hier am Ufer des Finnischen Meerbusens den Untergrund bildet. So nahe liegen hier abbauende und aufbauende Kräfte, oder um es mit Rudolf Steiner (siebter Vortrag) zu sagen: „Tages- und Nacht-Kräfte“ beieinander.
15.36/16.36 Uhr:
Lena ist mit Olga in die Stadt zum „Shoppen“ gegangen. Ich bin zu Hause geblieben und habe im achten Vortrag gelesen (bis S 136) und eine Stunde geschlafen.
Ich hatte heute ein starkes Gefühl des Ekels gegenüber dem heutigen gottlosen Russland.
Ich sehe die Löcher auf den Straßen, die bröckelnden Fassaden der Plattenbauten aus sowjetischer Zeit, viele Männer, die wie Clochards aussehen und traurig und hoffnungslos ins Leere blicken, oder Männer vor ihren Garagen bei ihren Autos, dem einzigen Stolz ihres Lebens, höre selten einen Gruß oder ein freundliches Wort und konstatiere ein komplettes Versagen bei staatlicher Organisation. Weil wir nicht, wie ursprünglich geplant, nach Moskau zu Cousin Oleg fahren, haben Lena und Olga die aus Deutschland mitgebrachten Geschenke heute bei der Post aufgegeben, um sie per Paket zu schicken. Auf die Frage, wie lange das Paket von Sosnovy Bor bis Moskau brauche, sagte die junge Frau am Postschalter: etwa einen Monat. Ich konnte es kaum fassen. Ich wollte meinem Sohn eine Ansichtskarte von Sankt Petersburg schicken. Aber in der Post von Sosnovy Bor gab es nicht die frankierten Kuverts, die dafür nötig sind. Außerdem könnte es einige Wochen dauern, bis die Post in Deutschland ankommt.
Was mir in Russland gefällt, sind die Zeugnisse alter Zeit, und das sind vor allem die Paläste und Gärten in Sankt Petersburg und Umgebung. Aber diese stammen vorwiegend von europäischen Herrschern und Architekten.
Die beiden einzigen zeitgenössischen Russen mit einer tieferen Bildung habe ich am Sonntag in Vater Andrej und gestern in dem Doktor angetroffen, der Lenas Mutter behandelt.
Leider hat mir Andrej bis jetzt noch nicht auf meine Mail geantwortet und ich muss sagen, ich bin nach dem „Höhenflug“ bei unserer Begegnung etwas enttäuscht. Ich dachte, ich hätte einen Freund gefunden. Aber dieser „Freund“ schweigt seit fünf Tagen. (Ergänzung vom 26.08.2017, 7.00/8.00 Uhr: Eben habe ich doch eine sehr freundliche Antwort von Vater Andrej erhalten.)
Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich mich zu Rudolf Steiner „bekannt“ habe. Heute erst las ich in der Taschenbuchausgabe des Helsingfors-Zyklus (S. 161), dass Rudolf Steiner seine Vorträge nicht in Petersburg halten durfte, weil der „Heilige Synod“ der Russisch-Orthodoxen Kirche als zuständige Behörde die „Bewilligung für die Einreise (…) verweigerte“. Ich finde das geradezu tragisch.
Aber offenbar ist die orthodoxe Kirche genauso „kleingeistig“ wie die katholische Kirche, die ja die Schriften Steiners bis heute auf dem „Index“ stehen hat.
Da muss ich an Dostojewskis Erzählung vom „Großinquisitor“ in dem Roman „Die Brüder Karamasov“ denken, in der die Haltung der Kirche gegenüber dem wahren Christentum so treffend charakterisiert wird.




[1] Inzwischen weiß ich, dass der Ausspruch so nirgends in der Bhagavad Gita steht. In Wirklichkeit hatte Oppenheimer, laut Wikipedia, folgende Verse rezitiert:
“If the radiance of a thousand suns / were to burst at once into the sky / that would be like / the splendor of the Mighty One and I am become Death, the shatterer of worlds.”
„Wenn das Licht von tausend Sonnen / am Himmel plötzlich bräch' hervor / das wäre gleich dem Glanze dieses Herrlichen, und ich bin der Tod geworden, Zertrümmerer der Welten.“

[2] Seit der Kernphysiker Otto Hahn am 17. Dezember 1938 die Spaltung des Urans entdeckt hat, arbeiteten amerikanische, sowjetische, deutsche und sogar japanische Physiker an der Entwicklung der verheerenden Atombombe.
[4] Mein Handy hat mir auf dieser Reise den Dienst versagt, weil ich mich nicht mehr an das Passwort erinnerte. Da auch unser Navi ausfiel, kann ich mich in diesem fremden Land nur mit Hilfe von Lena und Olga, aber auch mit Hilfe von Karten orientieren oder verständigen. Immerhin bleibt mir mein Laptop.
[5] Es handelt sich heute nur noch um eine Kopie, denn das tatsächliche Bernsteinzimmer gilt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als verschollen.
[7]Was mich persönlich in den Aspekten des Religiösen und Spirituellen seit einigen Jahrzehnten bewegt, ist die Frage, ob das 'Christentum' zur Welterfassung unter Maßgabe einer 'Gefahrenabwehr und heilsamer Weltentwicklung' nicht auch aus seiner ureigensten inneren Substanz 'etwas zu bieten' hat? Ob mit dem Christentum etwas in die Welt gekommen ist, das eigentlich etwas ganz anderes in sich birgt, als das, was bisher maßgeblich in Erscheinung getreten ist? Etwas, das unter dem ganzen Zeit-Mantel der historisch-geschichtlichen Entwicklung der letzten zweitausend Jahre verborgen ist? Etwas, das irgendwie 'verschütt gegangen' ist oder 'bewusst entstellt und verschüttet wurde'. Aber etwas, das, jenseits menschlicher Schuld und menschlichen Vermögens oder menschlichen Versagens in unserer Welt 'angelegt' ist ... auf unsere (Wieder)Entdeckung wartet...und uns in Folge einer solchen 'Entdeckung' darauf verweisen könnte, dass auch das Christentum unsere Stellung gegenüber Welt und MitWelt neu und ganz anders begründen könnte!

Die 'Kernfrage' hinsichtlich des 'ganz anderen' hat sich mir vor über dreißig Jahren über einiges Nachdenken zur'Kernkraft' ergeben. Der Anlaß zu diesem 'Nachdenken' kam eigentlich sehr unscheinbar und gleichsam auf leisen Sohlendaher. Es war ein Kalenderblatt.
Ein Kalenderblatt, das einer Tageszeitung zum Jahreswechsel beigelegt war, und am 6. August, dem Gedenktag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima, den Eintrag hatte: „Tag der Verklärung Christi“.

Das hat mich irgendwie 'angesprochen'...und so stand ich dann etwas länger mit meinem Kalenderblatt in der Hand (...und ahnte damals noch nicht, wie lange mich das noch 'beschäftigen' sollte). Was ist das für ein Tag? AUCH am 6. August? „Tag der Verklärung Christi“!?
Was ist die „Verklärung Christi“?

Ich wusste damals nur aus meiner rudimentären Kenntnis des Christentums, dass Christus bei seiner Verklärung den Anwesenden in einer Strahlenhülle aus Licht „Heller als tausend Sonnen“ erschienen war. Und ebenso lautete die gebräuchlichste Metapher (und ein Buchtitel) zum Atombombenabwurf auf Hiroshima – Heller als tausend Sonnen.

Und genau diese beiden „Sonnen“, sollten, laut meinem Kalenderblatt, an einem Tag vereint sein?! War das nur Zufall? Nur eine lässliche Nebensache rein kalendarischer Übereinstimmung? Oder lag hinter den 'zwei Sonnen' an einem Tag noch etwas Tieferes?“ Wilfried Michalski am 30. Juni 2013
[8] Der „Katharinen-Palast“ (nach Katharina I. benannt) In Zarskoje Selo entstand nach den Plänen Bartolomeo Rastrellis von 1748 bis 1856 unter Zarin Elisabeth I., der Lieblingstochter Peters und Katharinas I., also bereits sechs Jahre vor Regierungsantritt Katharinas II.
[9]Katharina und ihre Vertrauten planten daraufhin einen riskanten Staatsstreich. Sie versicherte sich zuerst der Unterstützung einiger Garderegimenter, in denen unter anderen die Gebrüder Orlow dienten, dann ließ sie sich am 9. Juli 1762 zur Zarin ausrufen, während Zar Peter III. für abgesetzt erklärt wurde. Katharina rückte mit der Garde nach Peterhof, wo Peter III. sich zu der Zeit aufhielt, vor. Peter III. flüchtete zunächst nach Kronstadt, kehrte allerdings zurück und unterschrieb anschließend in Oranienbaum seine Abdankungsurkunde. Katharina wurde noch am selben Tag in der Kasaner Kathedrale von Sankt-Petersburg durch den Metropoliten Setschin zur Alleinherrscherin Russlands erklärt. Peter III. wurde gefangengenommen und kam am 17. Juli 1762 unter ungeklärten Umständen ums Leben. Nachdem sich die Lage im Lande nach Peters Tod wieder beruhigt hatte, wurde Katharina II. am 22. Septemberjul./ 3. Oktober 1762greg. [6] in der Himmelfahrtskathedrale des Moskauer Kremls zur Zarin von Russland gekrönt, worauf sie das Land 34 Jahre lang regierte.“ (Wikipedia)
[10]Im Zuge des Siebenjährigen Krieges war von 1759 bis 1761 der französische Stadtkommandant Graf Thoranc im Elternhaus einquartiert. Ihm und der mitgereisten Schauspieltruppe verdankte Goethe seine erste Begegnung mit der französischen Dramenliteratur. Angeregt durch die vielen erlernten Sprachen, begann er als Zwölfjähriger einen mehrsprachigen Roman, in dem in buntem Durcheinander alle Sprachen zur Geltung kamen.“ (Wikipedia)
[11] Das Gedicht „Der Mönch“ entstand 1813

Montag, 21. August 2017

Erfahrungen an einem Sonntag in Russland

Ich schrieb neulich, mich könne nichts mehr wirklich erschüttern. Ich meinte das im „negativen“ Sinne, also das erschüttert Sein durch ein schreckliches Ereignis.
Nun wurde ich gestern doch erschüttert, aber nicht durch ein negatives, sondern durch ein wunderbares, positives Ereignis. Ja, es war im wörtlichen Sinne ein Wunder. Alles schien von höheren Mächten „eingefädelt“ zu sein und es blieb zum Schluss nur noch Staunen bei allen Beteiligten.
Wir sind, wie geplant, gegen 11.00 Uhr losgefahren in Richtung Lomonossov. Wir wollten nach Petershof, um die dortige Schloss- und Park-Anlage, die Peter der Große in Nachahmung von Versailles angelegt hatte, zu besuchen. Wir kamen aber nur bis Oranienbaum (Lomonossov), das einige Kilometer näher – von Sosnovy Bor aus gesehen – liegt, wo Peters Freund, Graf Alexander Menschikow, eine ähnliche Schloss- und Parklandschaft gestalten ließ.
Wir holten mit Lenas Vater das Auto aus der Garage und brachten ein paar Konserven in die „Sonnen-Allee“, wo wir den Vater ließen. Da bekam ich den ersten „Schock“ an diesem Sonntag: der Weg zum Eingang des Plattenbaus war versperrt durch ein blinkendes oranges Müllauto, das die Berge von ungetrenntem Müll – wie jeden Tag – einsammelte.
Es erstaunte mich, dass in dieser Stadt die Müllmänner auch am Sonntag arbeiten. Als wir dann endlich auf der Straße nach Lomonossow waren, bekam ich meinen zweiten „Schock“ an diesem Tag: wir kamen an einer Baustelle vorbei, an der ein Trupp Männer mit großem Gerät dabei war, den alten Straßenbelag abzuhobeln und das Material in Lastwagen abzutransportieren. Das hatte ich noch nie gesehen: eine Großbaustelle am Sonntag. Es wäre in Deutschland undenkbar.
Ja, ich war schockiert und es dämmerte mir, wie gründlich die Kommunisten in ihrer siebzigjährigen Herrschaft ein von der Anlage her christliches Volk umerzogen haben und aus dem christlichen Russland ein atheistisches Land gemacht hatten. Immer mehr drängt sich mir der Verdacht auf, dass das der eigentliche Plan der vorwiegend jüdischen Bolschewiki war. Ich hoffe, dass ich mich irre.
Der Fahrstil der Russen ist aggressiv und hektisch. Geschwindigkeitsbegrenzungen werden grundsätzlich nicht eingehalten. Wenn ich – wie mir Olga bei der Ankunft empfohlen hatte – die Vorschrift um 20 Stundenkilometer überschreite, sei es in Ordnung. Das tue ich nun auch. Trotzdem werde ich regelmäßig von Autos mit der Nummer 178 (Oblast Leningrad) überholt, die die Geschwindigkeitsbegrenzung mit über 50 Stundenkilometern überschreiten und dann noch in unübersichtlichen Kurven rechts oder links an mir vorbeirasen. Einer dieser Überholer geriet gestern unmittelbar vor uns in eine Polizeikontrolle.
Lena sagt, dass die meisten russischen Männer gerne „auf Risiko“ fahren würden. Sie bräuchten eben diesen „Adrenalin-Kick“.
Unmittelbar am Stadtanfang von Lomonossow sah ich ein braunes Schild, dessen Inschrift ich nicht verstand, das ich aber als Hinweis auf ein Kulturdenkmal erkannte. Ich bremste etwas scharf ab und bog links in einen kleinen geschotterten Seitenweg ein, der schon nach wenigen Metern vor drei langgezogenen rechteckigen Aufschüttungen endete, die Lena sofort als Massengräber identifizierte. Ihr Verdacht bestätigte sich auch, als wir ausstiegen und die kyrillischen Inschriften lasen. Später erfuhren wir, dass hier 5000 Einwohner von Lomonossow „ruhen“, die bei der „Blockade von Sankt Petersburg“ gestorben sind.
Ich habe von dieser Blockade durch die Deutsche Wehrmacht vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944 erst durch Lena erfahren. Vorher wusste ich von diesem „weltweit beispiellosem Kriegsverbrechen der deutschen Regierung unter Hitler und der Wehrmacht“ (Wikipedia[1]) nichts. Am 22. Juni 1941 hatte mit dem „Unternehmen Barbarossa“ der  „Russlandfeldzug“ Hitlers begonnen. Was ich darüber auf Wikipedia[2] zu lesen bekomme, befriedigt mich nicht, denn es ist aus der Sicht der Sieger geschrieben und bezeichnet den aus sowjetischer Sicht „großen vaterländischen Krieg“ „wegen seiner verbrecherischen Ziele, Kriegsführung und Ergebnisse als ‚ungeheuerlichsten Eroberungs-, Versklavungs-, und Vernichtungskrieg, den die moderne Geschichte kennt‘ (Ernst Nolte, „Der Faschismus in seiner Epoche, Piper 1963)“ (Wikipedia).
Am 17. August 1941 erreichte das XXVI. Armeekorps der 18. Armee die Festung Kingisepp an der Luga, etwa 140 Kilometer südwestlich von Sankt Petersburg und nicht sehr weit von der viel später gegründeten Stadt Sosnovy Bor gelegen. Beide Städte gehören heute zur Oblast Leningrad.
Das 1384 gegründete Kingisepp war eine Festung der Republik Nowgorod und hieß ursprünglich Jama. Die steinerne Festung diente der Verteidigung der russischen Fürstentümer gegen die Schweden-Einfälle. Bereits 1395 hielt sie einem schwedischen Angriff stand. Während der Nordischen Kriege verlor Russland den Ort zweimal an die Schweden (1583 und 1617) und er wurde über ein Jahrhundert lang schwedisch, bis ihn Peter der Große 1703 zurückeroberte. Nun hieß er „Jamburg“ und Peter schenkte die Stadt seinem Freund Alexander Menschikow. Erst 1922 wurde Jamburg von den Bolschewisten in Kingisepp umgetauft. Sie heißt bis heute nach dem estnischen Revolutionär Viktor Kingisepp (1888 – 1922).
Bei der „Leningrader Blockade“, die im Süden von deutschen, im Norden von finnischen Truppen unternommen wurde, sollen schätzungsweise 1,1 Millionen Zivilisten ihr Leben verloren haben, darunter auch viele Einwohner von Lomonossov.
Diese furchtbaren Ereignisse kann man mit menschlichen Maßstäben überhaupt nicht verstehen. Dem Geschehen kann man sich nur vorsichtig annähern, wenn man einen tieferen Blick für das Karma hat.
 
Wenn es auf Wikipedia als „beispielloses Kriegsverbrechen“ bezeichnet wird, dann blendet der Verfasser bewusst oder unbewusst aus, dass es bereits in den Jahren 1931 – 1933 in der Ukraine zum Tod von bis zu 14 Millionen Menschen durch Verhungern („Holodomor“)[3] kam, für den die Politik Josef Stalins verantwortlich war, der 1928 im ersten „Fünfjahresplan“ die Enteignung der russischen Bauern (Kulaken) und die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft vorsah, um das kommunistische Russland auf die Stufe eines Industriestaates zu „heben“. Schon zuvor hatte Stalin versucht, den ukrainischen Freiheitswillen zu brechen, indem er etwa 10000 Geistliche töten  und  über 100 Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle nach Sibirien deportieren ließ.[4] Der Hauptverantwortliche für die Verbrechen war Stalins damaliger engster Mitarbeiter Lasar Kaganowitsch, ein Mann mit jüdischen Wurzeln.
Das alles passierte, bevor Adolf Hitler an die Macht kam. Die Öffentlichkeit erfuhr von diesen Verbrechen gegen die Menschheit erst nach der Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991, lange, nachdem Deutschland bereits intensiv versucht hatte, die Verbrechen der eigenen Väter in einer etwa 60-jährigen „Trauerarbeit“ (Alexander Mitscherlich) „aufzuarbeiten“.[5]
Damals verloren zum Beispiel auch Lenas Großeltern mütterlicherseits, die noch nicht einmal 14 Jahre alt waren, ihre Heimat am Don und wurden nach Kasachstan umgesiedelt.
Vor ein paar Tagen erzählte Lenas Vater, der am 10. Februar 1948 in der Nähe der Stadt Kursk in eine einfache Bauernfamilie geboren wurde, von der Besetzung der Stadt durch die deutsche Wehrmacht vom 4. November 1941 bis zum 8. Februar 1943, bei der etwa 3000 Einwohner erschossen worden sein sollen. Fjodor erzählt, dass es nicht deutsche, sondern rumänische Wehrmachtskommandos gewesen seien, die diese Kriegsverbrechen begangen hätten. Immer wieder bin ich erstaunt, wenn ich über die Taten deutscher Soldaten und Offiziere im Zweiten Weltkrieg lese, so auch in der Vorbereitung auf unseren gestrigen Ausflug im Polyglott-Reiseführer: „Im September 1941 besetzten deutsche Truppen Peterhof und wüteten auf unvorstellbare Weise“ (S 133f).
Ich kann es gar nicht glauben, dass deutsche Soldaten beziehungsweise ihre Vorgesetzten so wenig Respekt vor der vergangenen Kultur hatten, die doch im Prinzip auf eine deutsche Fürstin, Katharina die Große, zurückging. Ein wenig Bildung will ich zumindest den Offizieren der damaligen Zeit doch zugestehen.
Mein Vater, der spätere Oberstleutnant zur See, hat seine Schulbildung auf der Ritterakademie in Liegnitz erhalten und konnte viele Verse aus der“ Ilias“ und der „Odyssee“ noch in meiner Jugend auswendig in altgriechischer Sprache rezitieren. Sein Kriegstrauma erlebte er, als er mit ansehen musste, wie etwa 9000 Menschen, die ihre Heimat im Osten verloren und sich in Gotenhafen auf das Schiff „Wilhelm Gustloff“ gerettet hatten, im eiskalten Wasser der Ostsee umkamen, nachdem das Lazarett-Schiff von drei Torpedos des sowjetischen U-Bootes S 13 getroffen worden war.[6]
Daran musste ich auf unserer Reise um die Ostsee immer wieder denken, ganz besonders, als wir mit der Fähre vom deutschen Puttgarden auf Fehmarn nach Rödby in Dänemark übersetzten und ich auf das Spiel der Wellen und der Gischt blickte, die unser Boot aufwirbelte. Vor meinem inneren Auge erschienen plötzlich all die Toten und ich fragte mich, wo sie heute sind.
Lena und ich standen also vor diesen drei Massengräbern und unsere Gedanken wanderten zurück in die Zeit des Zweiten Weltkrieges, die wir nur aus Erzählungen und aus dem Geschichtsunterricht kennen, Lena aus ihrem sowjetisch, ich aus meinem westlich geprägten.
Wie drei unbepflanzte riesige Hochbeete lagen die drei „Rabatten“ vor uns. Am nördlichen Ende war noch ein Sowjetstern vor einem Gedenkstein eingemauert, aus dem einst eine Flamme züngelte. Sie war inzwischen verloschen.
Östlich von den Kriegsgräbern stand die Kirche, auf die uns das Hinweisschild aufmerksam gemacht hatte. Es war eine Ruine aus Ziegelsteinen. Das Dach der dreischiffigen Basilika war weitgehend eingebrochen. Aber neben der alten Kirchenruine stand eine kleine, neugebaute Holzkirche. Frauen und Männer, die an diesem Sonntagvormittag vom Gottesdient kamen, standen noch um die Kirche herum und unterhielten sich miteinander oder mit dem Priester, der durch sein schwarzes Gewand kenntlich war.
Als wir um die Kirche herumgingen, trat eine Frau zu uns, die bereit war, uns etwas über den Bau zu erzählen. Sie stellte sich uns als Nadeschda vor und fragte nach unseren Namen. Als wir uns bekannt gemacht hatten, begann sie ihre „Kirchenführung“.
Sie sagte uns, dass es sich um eine Dreifaltigkeitskirche handele, in der sowohl Reliquien von Alexander Newski, als auch von Wladimir dem Großen aufbewahrt würden. Die ursprüngliche Kirche war aus Holz und hatte ein paar hundert Meter weiter nördlich am Ufer des Finnischen Meerbusens gestanden, wo jetzt Wald wächst, der mit völlig zugewachsenen Gräbern übersät ist.
Ein Grab auf diesem Friedhof zeigt sie uns. Es handelt sich um eine Persönlichkeit des 18. Jahrhunderts, die vermutlich mit dem Bau der alten Holz-Kirche zusammenhängt. Ich mache ein Foto von dem Grab.
Die heutige Kirche, die offensichtlich gerade einer Renovierung unterzogen wird, wie uns die zahlreichen Tafeln an der Kirchenwand anzeigen, ist erst im Jahr 1903 eingeweiht worden. Sie wurde im neuromanischen Stil auf einem lateinischen Grundriss erbaut, was mir sofort auffällt.
Wir erfahren auch, dass das Gebiet einst dem Grafen Alexander Menschikow gehörte. In Wikipedia lese ich, dass Katharina die Große in Lomonossow vor allem deutschen Siedlern Land überließ. 1848 sollen hier laut Wikipedia noch 6344 deutschsprachige Siedler gewohnt haben. Die 1710 gegründete Stadt hieß damals Oranienbaum, weil es hier eine Orangerie gab oder weil Peter der Große eine Vorliebe für das Oranier-Geschlecht der Nassauer hatte. Auf Wikipedia lese ich, dass die Stadt als Brückenkopf von der Sowjetarmee während der Blockade erfolgreich verteidigt wurde und dass hier die Kunstschätze nicht zerstört worden seien.[7]
Bis zur Perestroika war Oranienbaum, das im Jahre 1948 nach dem berühmten russischen Gelehrten Michail Wassiljewitsch Lomonossow (1711 – 1765) umbenannt wurde, eine von der Außenwelt abgeschnittene Stadt, weil sich hier ein Stützpunkt der sowjetischen Marine befand.
Nadeschda, eine kräftige Frau mit bereits ins Graue herüber spielenden blonden Haaren, die sie zu einem Zopf zusammengebunden hat,  ist hier aufgewachsen und war lange Zeit Mitarbeiterin in den Gärten und Palastanlagen von Oranienbaum. Sie erzählt uns von einer wesentlich älteren Bekannten, die Augenzeugin eines Leichenberges war, der östlich des Kirchenchores aufgehäuft worden war.
Die Kirche war also umgeben von unvorstellbar vielen Toten aus den Zeiten der Leningrader Blockade. Vielleicht ist auch das ein Grund dafür, dass sie jetzt, gleichsam als Gedenkstätte, restauriert werden soll.
Lena versucht, die Mitteilungen Nadeschdas für mich zu übersetzen, aber ich bin nicht ganz sicher, ob ich alles richtig verstanden habe. Deshalb recherchiere ich jetzt beim Niederschreiben immer wieder im Internet-Lexikon „Wikipedia“, das mir Gott sei Dank hier, fern von der Heimat, jederzeit zur Verfügung steht.
Als nächstes zeigt uns Nadeschda die neue Holz-Kirche und einige Ikonen.
Besonders auffallend ist ein Heiliger mit langem weißen Bart, der in zwei Teilen bis auf den Boden reicht. Es ist der Heilige Onophrius, den ich selbst erst am 26. Juni 2017 durch Herrn Rümelin kennen gelernt hatte.
Nadeschda ist erstaunt, dass ich diesen Heiligen kenne. Ich erfahre später, dass sie mit einer Reisegruppe unter Vater Andrej in einem Kloster in Israel war, in dem dieser Anachoret, dessen Körper ganz mit Haaren bewachsen war, gelebt haben soll. Ich wusste nicht, dass er auch in der orthodoxen Kirche verehrt wird.
Dieser Heilige, der Schutzpatron des Vetters und Gegenspielers Kaiser Barbarossas, Heinrich des Löwen, ist sozusagen der „Türöffner“ für die wunderbare Begegnung mit Vater Andrej, der seit etwa zwei Jahren Priester in dieser Gemeinde ist und sich tatkräftig, das heißt auch handwerklich, für den Wiederaufbau der Dreifaltigkeitskirche einsetzt.

Im Anschluss an den Besuch der Kirche fragt Nadeschda Lena, ob ich Interesse habe, Vater Andrej, den Priester diese Gemeinde, persönlich kennenzulernen. Ich sage „Ja“. Und so werden wir beide in einen kleinen Nebenraum der Kirche, gleichsam den Gemeinderaum, eingeladen, in dem ein gedeckter Tisch steht, an dessen Kopfende Vater Andrej sitzt. Er teilt das Mal mit etwa acht Gemeindemitgliedern, die nach dem Gottesdienst noch geblieben sind. Wir werden gebeten, Platz zu nehmen und sogleich werden  uns Tee und Speisen gereicht. Kaum haben wir uns gesetzt, sind wir schon im Gespräch mit Vater Andrej, einem sehr sympathischen 58-jährigen Geistlichen mit rötlichem mittellangen Bart.
Die erste Frage, die er mir – beziehungsweise Lena – stellt, finde ich sehr wesentlich. Er fragt, ob das Christentum in Deutschland eher traditionell sei oder aus einem lebendigen Glauben hervorgehe. Ich versuche zu antworten.
Lena erzählt, was ich mache, und dass ich mich sehr für die russische Geschichte interessiere, insbesondere auch für Zar Nikolaus II. und für Rasputin. Da horcht Vater Andrej auf und fragt mich, was ich von Rasputin halte. Ich sage nur, dass ich mich schon lange für diesen Heiligen Mann interessiere. Er erwidert, dass sein Tod bis heute ein ungelöstes Rätsel sei. Ich sage, dass mich auch die tragische Geschichte der Zarenfamilie interessiere und erwähne, dass genau an diesem 20. August vor 17 Jahren die russisch-orthodoxe Kirche diesen letzten Romanov-Zaren und seine ganze Familie als Märtyrer kanonisiert habe.  Davon wusste er nichts, aber mehrere der am Tisch Sitzenden zückten sofort ihr Handy und bestätigten meine Angabe.
Andererseits war Vater Andrej der erste Mensch, den ich treffe, der Boris Wladimirovitsch Stürmer kennt und weiß, dass er im Jahre 1916 ein paar Monate lang Premierminister unter Zar Nikolaus II. war.
Er fragt mich, wie ich Russland erlebe, ob gläubig oder nicht gläubig. Ich sage, dass ich Russland erst durch Lena näher kennen gelernt habe, die in der atheistischen Sowjetunion aufgewachsen ist, und deswegen noch kein zutreffendes Urteil abgeben könne. Er empfiehlt mir, „Die Dämonen“ von Dostojewski zu lesen, wenn ich die zwei Seiten der russischen Seele besser kennen lernen will.
Dann stelle ich ihm meinerseits eine Frage. Ich möchte wissen, welcher Feiertag am Vortag gewesen sei, und ich erfahre, dass es tatsächlich der Tag der „Verklärung“ war, wie ich vermutet hatte. Dieser Tag leitet in der orthodoxen Kirche offenbar eine kleine Fastenzeit ein, weshalb man in dieser Zeit kein Fleisch und keine tierischen Lebensmittel isst, also auch keine Milch in den Tee nimmt. Das war wohl der Grund, warum Lenas Vater vorgestern vor dem Essen Apfelschnitze gereicht hatte.
Dann fragt mich Vater Andrej, welche Rolle Gott in meinem Unterricht an deutschen Schulen spiele und ich sage, dass er immer eine wichtige Rolle gespielt habe, weil ich lange Lehrer an verschiedenen Rudolf-Steiner-Schulen war.
Zuerst versteht er den Namen „Rudolf Steiner“ nicht, aber dann merke ich an seinem Gesicht, dass er von ihm schon gehört hatte. Er fragt mich, als was ich Rudolf Steiner sehe. Es ist fast die identische Frage wie die, welche er zu Rasputin gestellt hatte.
Ich sage, dass er nicht nur ein Philosoph war, sondern ein Mann, der den Menschen zum Beispiel eine neue Pädagogik, eine neue Medizin und eine neue Landwirtschaft gebracht habe. Ob ich alles gut finde, was Nietzsche geschrieben habe, will Vater Andrej dann etwas ausweichend wissen. Ich sage: nein. Vater Andrej zitiert Sokrates und meint, dass alle Philosophie nicht ausreiche, um Gott zu erkennen. Ich sage die Variante des Sokrates-Ausspruches auf, den ich oft mit meinen Schülern rezitiere: „Wer weiß, dass er nichts weiß, weiß mehr, als der, der nichts weiß, und nicht weiß, dass er nichts weiß“ und lasse ihn von Lena, (Neben-) Satz für (Neben-) Satz ins Russische übersetzen. Da muss Vater Andrej lachen. Das Eis, das vorher noch zwischen ihm und dem Fremden „Eindringling“ aus Deutschland zu liegen schien, war nun endgültig gebrochen. Als ich auch noch den Namen von Wladimir Solowiow nannte, beginnen seine Augen zu leuchten.

Vater Andrej verlässt den Gemeindesaal kurz und bringt nun ein gerahmtes Bild von der Zarenfamilie und zwei Reproduktionen von Hiob-Ikonen[8], die seine Schwester, eine Ikonen-Malerin, geschaffen hatte und schenkt sie mir.
Ich bin so gerührt, dass ich zu ihm gehe, vor ihm niederknie und ihm die Hand küsse. Er will mich sofort aufrichten, aber ich bleibe sekundenlang in dieser Haltung und lasse meinen Gefühlen freien Lauf. Dann setze ich mich und verberge meine Tränen mit den Händen. Vater Andrej streichelt mir tröstend den Rücken. In diesem Augenblick ist unsere Freundschaft besiegelt.
Wir tauschen unsere E-Mail Adressen aus.
Kurz darauf holt Vater Andrej noch ein Modell der Kirche und schenkt es mir auch noch. Als ich Nadeschda bitte, ein Foto von uns beiden mit den Geschenken in der Hand zu machen, willigt er ein.



Als Lena und ich uns von Vater Andrej und der Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit verabschieden, spendet er uns den Segen.
Nadeschda meint, wir müssten wiederkommen und hier heiraten, wenn die Kirche fertig restauriert sei.
Für die geplante Restaurierung ist die Gemeinde allerdings auf Spenden und Unterstützung des Staates angewiesen. Eine Organisation gibt es bereits, die das Projekt unterstützt: Es ist die Besatzung des U-Bootes „Alexander Newski“, das hier offenbar vor Lomonossow liegt. Ein Modell dieses U-Bootes findet sich im Vorraum der Holzkirche.

Nun fahren wir mit dem Auto ein Stückchen weiter zu einem Parkplatz, von wo aus wir zu einem anderthalbstündigen Rundgang durch die Parkanlagen mit den Palästen Menschikows und Katharinas (Chinesisches Schloss) gehen.
Da Nadeschda jahrelang hier gearbeitet hat, weiß sie viele Details zu erzählen, die man sonst eher nicht erfährt, so zum Beispiel, dass Alexander Menschikov, der Sohn eines Stallknechts, der unter Peter dem Großen zu unvorstellbarem Reichtum gelangt war, verschiedene Sorten von Steinpilzen aus Deutschland importieren und sie in den Parkanlagen ausbringen ließ. Bis heute wachsen hier die schmackhaftesten Pilze, die Nadeschda und andere Mitarbeiter oftmals gesammelt haben. Auch zeigt sie uns beim „Chinesischen Palast“, einem Schmuckstück an einem künstlichen See, eine aus Granit gehauene Bank, auf der alte Bäume wachsen. Diese Bank wurde, wie eine eingemeißelte Inschrift verrät, für Katharina die Große geschaffen, die sich oft in ihr Schlösschen zurückzog. Wir erfahren auch, dass rund um das Schlösschen Szenen des russischen Films „Tschaikowski“ von Igor Wassiliewitsch Talankin (1969) gedreht wurden, der sogar zwei Oscarnominierungen erhalten hatte und in Russland sehr bekannt ist.


Die weitläufige Anlage vereinigt französische und englische Gartenbaukunst. Der barocke Hauptpalast allerdings folgt einem streng symmetrischen Grundriss und steht auf einer ausgedehnten Nord-Süd-Sichtachse, die auf den Marine-Dom der von Peter dem Großen 1703 gegründeten Festung Kronstadt auf der Ostseeinsel Kotlin im Finnischen Meerbusen zeigt. Über diese Insel führt die erst im letzten Jahr fertiggestellte Autobahn, auf der wir – von Finnland kommend – am Mittwochabend, den 9. August 2017, nach Sosnovy Bor gelangt waren.
Auch ein Atelier des italienischen Bildhauers und Architekten Bartolomeo Rastrelli gibt es in der Parkanlage. Er ist der Hauptbaumeister des barocken Sankt Petersburg und hat zum Beispiel den Winterpalast entworfen, den wir am Donnerstag vergangener Woche besucht haben.
Zum Abschluss laden wir Nadeschda bei einem Imbissstand mit Sitzplätzen am Tiergehege des Parks zu einem Kaffee ein. Dabei erzählt sie uns auf meine Nachfrage mehr von Vater Andrej. Ich erfahre zum Beispiel, dass er seit 36 Jahren verheiratet ist. Auch Nadeschda ist verheiratet und engagiert sich aus Liebe zu ihrem Mann, der Afghanistankrieg-Veteran und gläubig ist, für die Gemeinde der Dreifaltigkeitskirche.
Nicht weit von der in Weiß erstrahlenden schön restaurierten Hauptkirche von Lomonossow, die dem Erzengel Michael geweiht ist, verabschieden wir uns von unserer freundlichen Führerin und fahren zurück nach Sosnovy Bor.
Noch immer sind die Bauarbeiten auf der Straße im Gange. Am Abend wollen Olga und Lena noch einkaufen. Ich kutschiere sie zu drei Einkaufszentren, die rund um die Uhr, also auch am Sonntag, geöffnet haben: zu „Lenta“, zu „Carusel“ und zu „Spar“. Ich suche vergeblich in den drei Läden nach einem essbaren Hartkäse. Dafür gibt es frischen Fisch in Hülle und Fülle. Und eine riesige Fleischtheke. Natürlich dürfen die russischen Bonbons (Konfetti) nicht fehlen, die sich über mehrere Regale verteilen und mit ihren buntglitzernden Verpackungen vor allem russische Frauen verführen.
Russland steht inzwischen an vierter Stelle bei dem Bevölkerungsanteil an übergewichtigen Menschen.
Im Bereich des Einkaufens steht Sosnovy Bor einem deutschen Einkaufszentrum in nichts nach. Immer wieder habe ich das Gefühl, dass die ehemaligen Sowjetbürger ein ungeheures Nachholbedürfnis nach den Gütern des „Goldenen Westen“ haben. Russische Lebensmittel gibt es zwar auch, aber die meisten kenne ich aus Deutschland, unter anderem die Milchprodukte von  Danone und Getränke von Nestle, aber auch all die Industrieprodukte anderer Nahrungsmittelkonzerne.
Die Russen, die hier einkaufen, haben davon offenbar noch kein Bewusstsein, genauso wenig, wie bei der Müllentsorgung. Immer wieder muss ich mich überwinden, wenn ich bei Lenas Eltern Teebeutel, Lebensmittelreste, Plastikflaschen oder Papier ungetrennt in den gleichen Mülleimer werfen muss.

Dieser unbewusste Umgang mit industriell gefertigten Lebensmitteln und der umweltbelastenden Müllentsorgung ist der dritte "Schock", den ich an diesem Sonntag erfahre.




[3] „Nach Berechnungen der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften, die im November 2008 veröffentlicht wurden, betrug die Opferzahl in der Ukraine ca. 3,5 Millionen Menschen. Andere Schätzungen gehen von 2,4 bis 7,5 Millionen Hungertoten aus. Der britische Historiker Robert Conquest beziffert die Gesamtopferzahl auf bis zu 14,5 Millionen Menschen. Hierbei wurden neben den Hungertoten auch die Opfer der Kollektivierung und Entkulakisierung und der Geburtenverlust hinzugerechnet“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Holodomor ).
[4] „Stalin verfolgte das politische Ziel, den ukrainischen Freiheitswillen zu unterdrücken und die sowjetische Herrschaft in der Ukraine zu festigen. Die Sowjets waren bereits zuvor radikal gegen die ukrainische Intelligenzija und den ukrainischen Klerus vorgegangen. Zwischen 1926 und 1932 wurden durch die Kommunisten 10000 Kleriker liquidiert. Allein im Jahr 1931 wurden mehr als 50000 Intellektuelle nach Sibirien deportiert, darunter die 114 wichtigsten Dichter, Schriftsteller und Künstler des Landes. Hiernach wandten sich die Sowjets nun gegen die Bauernschaft, die sich weiterhin hartnäckig der Kollektivierung und Umerziehung widersetzte. Im Sinne der Russifizierung sollte die ukrainische Kultur ausgemerzt werden, so dass nur noch sowjetische Kultur übrigbliebe (ebenda).
[5] Der deutsche Journalist Paul Scheffer hatte, wie ich Wikipedia entnehme, schon im Jahre 1929 darüber im „Berliner Tageblatt“ berichtet und ging 1930, also ebenfalls vor der Machtergreifung Hitlers, in seinem Buch „Sieben Jahre Sowjetunion“ „sachlich, aber erstmals ausführlich auf Stalins Methoden und Vertuschungsversuche zum ‚millionenfachen Hungertod‘“ (Wikipedia) ein.
[7] Die Kunstschätze der Stadt blieben vor der Zerstörung bewahrt.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Lomonossow
[8] Hiob war auch der Lieblingsheilige von Dostojewski